„Es ist wie ein „Fuck you“, wenn überall nur Text steht und Du nur lesen sollst“

Ein Gespräch mit Nora Gomringer.

 

Carolin Schmidt

Was lesen Sie derzeit?

Gedichte, Gedichte, Gedichte. Mit Dr. Martin Beyer stelle ich eine Anthologie für Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler sowie Leserinnen und Leser aller Art zusammen. 

 

Können Sie ein bisschen mehr darüber erzählen?

Die Anthologie ist für den Verlag Voland & Quist und wird nächstes Jahr erscheinen. Sie ist etwas an die Notlage angelehnt, in der sich Lehrerinnen und Lehrer offensichtlich immer wieder befinden, wenn sie Epochengedichte durchnehmen und feststellen, dass sie keine Brücke zur Jetzt-Zeit schlagen können. Die Jugendlichen können sich oft nicht vorstellen, dass jemand in der Barockzeit so empfunden hat wie sie. Deshalb suchen wir Texte aus, die sich mit den Thematiken der Epoche beschäftigen.

 

Sie sind Leiterin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Haben Sie dort auch schon einmal (literarische) Texte ausgestellt? Falls ja, wie?

Die Papierkünstlerin Veronika Schäpers hat Texte von Heiko Michael Hartmann als Bastelbögen und in Sondereditionen präsentiert. Die Besucher konnten Texte oder Teile von Texten mitnehmen. Immer wieder sind wir mit der Ausstellung von Schrift und Text beschäftigt, weil ja nicht nur Autoren, sondern auch Bildende Künstler und Komponisten Text als immens wichtigen Teil ihres Werkes ansehen. 

 

Wie sieht das bei Komponisten aus?

Die Schweizer Komponistin Annette Schmucki baut sich immer eine Bühne für ihre Texte. Bei uns hat sie eine Art Wäscheleinenkonstrukt geschaffen im Saal. An den Leinen hingen die Texte, die sie bei der Rezitation gesprochen hat. 

 

Was passiert mit den Texten nach den Ausstellungen?

Nichts. Es wird auch nicht publiziert. Die Werke gehen wieder an die Künstlerinnen und Künstler zurück. Wir archivieren nichts außer Plakate und Druckerzeugnisse, die wir herstellen, um Veranstaltungen zu bewerben. 

 

Wurden Ihre eigenen Gedichte schon einmal ausgestellt?

Ja. Mehrfach. Gerade entsteht in Zürich für den Herbst „Gomringer & Gomringer“ im Literaturmuseum Strauhof. Die Kuratoren sind Gesa Schneider und Remi Jacquard.

 

Welche Werke werden dort ausgestellt?

Das weiß ich noch nicht so genau. Gesa hat bei mir im Archiv alles genommen, was sie interessiert hat. Ich archiviere mich selbst etwa seit 6 Jahren. Es gibt viele Druckerzeugnisse, ich produziere ja viel. Deshalb gibt es die Not, die Dinge gut zu verwahren. Bei mir soll das gesprochene Wort den Hauptanteil ausmachen, bei meinem Vater das Visuelle, das visualisierte Wort. 

 

Würden Sie sagen, dass Sie bei der Aufnahme Ihrer Texte eine andere Stimme als im Alltag haben? 

Auf jeden Fall. Das ist poetisches Sprechen. Es ist mir wichtig, dass man den Unterschied merkt. Durch meine musikalische Ausbildung habe ich das etwas gelernt. Und durchs gute Zuhören. Auftritte meiner Eltern sind Erlebnisse. 

 

Was halten Sie von Gedichten in Kunstmuseen? Wäre die Rezeption eine andere als in einem Literaturmuseum? Inwiefern?

Mehr Geister und andere Lesarten würden sich mit den Texten verbinden. Denken Sie an die Werke Anselm Kiefers, in denen er Paul Celan einbezieht. Text in Bildern hat manchmal echte Mehr-Kraft, kann aber auch über die Inszenierung stärker erscheinen. Gerade habe ich für das Kunstauktionshaus Griesebach eine Textarbeit abgeliefert. Immer mehr Museen, Institutionen schmücken Kataloge mit Gedichten oder Kurzgeschichten anstelle von akademischem Erklärungstext. 

 

Wie sieht diese Textarbeit aus?

Das Projekt ist eine Reihe. Das Auktionshaus hat deutsche Lyrikerinnen und Lyriker eingeladen, zu einem Bild ein Gedicht zu verfassen. 

 

Senden Sie eine Handschrift ein? Wie wichtig ist Ihnen der Satz und die Schriftart?

Nein, das ist ein Word-Dokument. Der Satz ist mir sehr wichtig. Ich schreibe immer Linksbündig. Ich hasse solche Flattersatzgeschichten oder mittigen Satz. Es gibt unterschiedliche Bauten von Gedichten. Meine sehen immer so aus wie flachbusige Frauen mit Hintern. Und Sprechtexte sind ziemlich lang, Gedichte hingegen oft kurz. 

 

Wozu haben Sie geschrieben?

Zu Max Liebermanns „Zimmermannswerkstatt“. Vom Sujet ist es meiner Meinung nach eine Krippenszene, die aber in ein sozialistisches „work environment“ eingesetzt wurde. Sehr schön. 

 

Was macht das Auktionshaus dann mit den Texten?

Ich weiß es gar nicht genau, kann nur annehmen, dass wenn jemand das auktionierte Bild kauft, er das Gedicht mitgeschickt bekommt. Ich nehme auch an, dass die Gedichte gesammelt werden und dass irgendwann eine Edition erscheint. 

 

Schreiben Sie öfter zu Bildern?

Ich sammle seit 20 Jahren Kunst und schreibe zu jedem Werk, das ich erstehe, ein Gedicht. Ich habe eine Ausstellung meiner Sammlung in Planung für 2018/19, bei der statt eines Kataloges ein Lyrikband für den interessierten Besucher entsteht.

 

Wie haben Sie ein Gespür für die Lyrik entwickelt?

Im Kunstinstitut meines Vaters, dem IKKP in Rehau, gab es gerade eine gefeierte Wort-Ausstellung zu Friedrich Achleitner, dem großen Architekten und Konkreten Dichter. Tolle Textfahnen von den Wänden, herrliche Drucke. Ich bin damit ja aufgewachsen. Bei uns hingen nur Texte oder monochrome Bilder an den Wänden. Ich durfte mit toller Kunst aufwachsen. Das war gut für Auge und Verstand. 

 

Würde Sie eine Ausstellung zeitgenössischer Gedichte interessieren? Was für Erwartungen hätten Sie?

Das passiert oft. Manchmal ist’s gut, manchmal langweilig. Wichtig: alles gut lesbar und nicht nur hinter Glas. Ich würde wesentliche Texte z.B. auf die Spiegel in den Toiletten der Museen schreiben oder auf die Innenseite der Klotüren. Da wird gelesen! Auch Boden- und Wand-Tattoos, Gedichte zum „Mitnehmen“ auf Flugblättern, als Stempelabtrug auf der Haut. Ich selbst habe solche Ausstellungen und Aktionen oft gemacht. Das belebt Texte. 

 

Haben Sie eine gute Literaturausstellung gesehen in letzter Zeit?

Der beste Literatur-Kurator überhaupt ist Friedrich Block. Momentan sieht man die Ausstellung „Aufs Maul geschaut. Luther und Grimm wörtlich“ in der Grimm-Welt in Kassel.

 

Was bedeutet „Präsenz“ für Sie?

Da- Sein. Bedingungslos. Alternativlos. For better or worse.

 

Angenommen Sie hätten eine Anfrage von einer Kuratorin/ einem Kurator, einen Ihrer Texte für eine Ausstellung zu produzieren. Sie/ er möchte aber nicht das „Original“ ausstellen, sondern den Text in ein anderes Medium überführen. Würden Sie darauf eingehen? Wo sähen Sie Schwierigkeiten? Würden Sie ihr/ ihm freie Hand lassen?

Absolut. Ich selbst verfilme ja ständig Gedichte oder die Texte werden Lieder und andere Leute oder ich singe sie. Der Text muss viel aushalten. Gute Texte halten viel aus.

 

Wie visuell ist Ihre Lyrik?

Ich glaube, sie ist sehr visuell. Ich schreibe Gedichte wie Gedankendrehbücher, Erinnerungsbilder, Polaroids, manchmal. 

 

Sie arbeiten auch als Übersetzerin. Würden Sie sagen, dass das Schreiben eines Gedichtes auch schon eine Übersetzungsleistung ist? 

Ja. Und diese reicht mir. Ich habe immer wieder einsehen müssen, dass ich nur unter sehr besonderen Bedingungen übersetzen kann und will. Ich schreibe und übersetze damit Gedankenleistung in Energie, die nach dem Blatt wieder freiwerden soll. 

 

Kann man Lyrik übersetzen?

Ja, Lyriker können das mitunter sehr gut. 

 

Würden Sie ein Gedicht in einer Ausstellung kaufen, wenn es Ihnen gefiele? Von wem „besäßen“ Sie gerne ein Gedicht?

Das erste Kunstwerk, das ich jemals gekauft habe, war ein Gedicht. Ein Bild-Text oder eher ein Text-Bild in 9 kleinen Rahmen von Zsuzsanna Gahse. Es ist zum Schauen. Nicht unbedingt ein Gedicht, aber auf Blättern inszenierter Text. Gerade habe ich auch 5 sehr schön gedruckte Blätter von Friedrich Achleitner erstanden. Ich kaufe viel Kunst. Es bewegt mich, zu sehen und zu verstehen, was meine Zeitgenossen denken, fühlen, umsetzen. 

Die Texte meines Vaters habe ich jeden Tag um mich. Ich sehe auf eine große Leinwand mit dem Text „das erste grün“ darauf und eine Klangpoesie-Arbeit von Valeri Scherstjanoi hängt auch in meinem Büro. Viel Grafik. Die spielt in meinem Leben eine große Rolle. 

 

Gibt es einen Marktwert von Gedichten?

Nein. Wenn ein Text ausgestellt wird, ist er ein Bild. Dann gelten andere Marktregeln für den Text. Klaus Staeck ist so ein Beispiel. Wenn er seinen Text draußen hinhängt, ist es ein Plakat; wenn er im Museum hängt, ist es ein Bild, eine gerahmte Grafik. Dafür kann man viel Geld verlangen. Für das Plakat, das man abreißt, nicht. Genauso ist es mit Lyrik.

 

In einem ZEIT-Interview sagen Sie, dass ein Foto mit der ganzen Welt spricht, ein Gedicht hingegen nur mit den Leuten, die Deine Sprache sprechen. 

Wenn der Text nicht nur als Bild gesehen werden soll, dann muss natürlich verstanden werden, was da steht. In der Konkreten Poesie haben sie das gut gelöst, weil sich viel über die Schrift und den Bildwert der Schrift erklärt.

 

Zeigt ein Bild mehr als eine Schrift?

Bei mir kommt alles aus der Schrift. Dann kommt die Überlegung zur Aufführung, zum Verfilmen, Vertonen, Vertanzen, ... Ein Text hat immer drei Leben. Das erste ist das, in dem er generiert wird und noch keinen Körper hat. Das zweite Leben ist, wenn er einen Körper bekommt, also auf die Seite erstmalig niedergesetzt, niedergelegt, festgehalten wird. Und das dritte ist dieses Wiederaufführungsleben. 

 

Haben Sie Ihre Texte schon einmal verkauft?

Ja, ein Gynäkologe hat sie sich an die Decke geschrieben, ein Paartherapeut hinter seine Couch. Also als Wand-Tattoo. Das Sich-Umgeben mit Schrift und die Nutzung von Schrift als Bild ist für mich die einzig logische Art, wie man leben kann. Die Texte meines Vaters werden oft als Tattoos gebraucht. Das ist rechtlich eine schwierige Sache. 

 

Wenn Sie einen Auftrag für eine Videoarbeit hätten, in der Sie Text in Form eines Filmes wiedergeben sollen, wie würden Sie das machen? Und wie viel Geld würden Sie dafür verlangen?

Mir wäre zunächst wichtig, dass die Urheberrechte bei mir bleiben. Das ist nur fair, dass man bei der Produktion eines schönen Filmes die Möglichkeit hat, ihn etwa auf YouTube zu zeigen. Bei einem solchen Film geht es ja ganz stark um Inszenierung. Es spielt eine große Rolle, wie man den Text zum ersten Mal aufnimmt, wie er eine Pupille trifft. Das soll ja alles eine Art Text-Erlebnisraum sein. Das ist am stärksten, wenn doch ein wenig Ton dabei ist und sei es nur ein atmosphärischer Klang. Wenn es einfach nur still ist, ist es, als würde jemand Folien auflegen. 

Der Partizipationswunsch ist gerade bei Text extrem groß, weil  es wie ein „Fuck you“ ist, wenn überall nur Texte stehen und Du nur lesen sollst. 

 

 

Gespräch geführt per E-Mail am 28. Juli und live am 29. Juli 2016.